„Meinen Beruf will man haben, oder?“

Ulrike Hess und ich begegneten uns im Januar 2013. Sie begleitete damals einen Herzensmenschen von mir als Bestatterin auf dem letzten Weg. Sie bot mir damals an, bei der Waschung und Salbung dabei zu sein. Ich traute mich nicht. Nun habe ich im Sommer einen Tag bei ihr hospitieren dürfen. Seither weiß ich: So und nur so wie Ulrike Hess und ihr Team bei „Lichtweg“ es machen, möchte ich verabschiedet werden, wenn ich gestorben bin! Und so seltsam es vielleicht klingt: Dieser „Praktikumstag“ war für mich einer der schönsten und bewegendsten Tage dieses Jahres. Einige dieser Erlebnisse spielen auch im folgenden Gespräch eine Rolle.

Der „Bogen der Fürsorge“

Ulrike, wie bist Du eigentlich zum Bestatterinnenberuf gekommen?
Ich bin Pflegefachkraft, habe im stationären und ambulanten Bereich gearbeitet und habe immer wieder erlebt, dass wir die Menschen sehr fürsorglich begleitet haben. Doch mit dem Tod war plötzlich ein Bruch da. Der „Bogen der Fürsorge“ ist nicht zum Bestattungsunternehmen hin aufgegriffen und weitergestaltet worden. Das fand ich befremdlich. Die andere Spur ist die, dass ich vor langer Zeit eine krebskranke Freundin von mir begleitete. Sie wusste, dass sie stirbt und hatte ein paar ungewöhnliche Wünsche, die sie mit mir besprochen hat. Zum Beispiel wollte sie, dass Kinder den Sargwagen von der Trauerhalle ans Grab schieben sollten. Sie hatte selbst keine Kinder, liebte Kinder. Doch als es dann soweit war, stieß ich an ganz viele Grenzen. Da kamen dann verschiedene Instanzen und erklärten mir: das geht aus diesen oder jenen Gründen nicht. Und ich dachte mir: Ja, so geht das wirklich nicht. Wenn es letzte Wünsche gibt, dann brauchen Angehörige eine anwaltschaftliche Begleitung, die sie darin unterstützt, diesen Willen auch zu erfüllen. Natürlich ist nicht immer alles umsetzbar, aber es sollte doch möglich sein, Dinge auszuhandeln, Kompromisse zu finden.

Ulrike Hess, Geschäftsleitung von „Lichtweg. Bestattungen und Trauerkultur“

Was eine „alternative Bestatterin“ anders macht

Ist es das, was Dich dazu bringt, Dich selbst als „alternative Bestatterin“ zu bezeichnen? Was ist im Gegenteil das Konventionelle?

Konventionell ist das, was über Jahrzehnte vorgegeben war. Aber der Faden der Tradition ist gerissen. Es gibt ganz viele Menschen, die nicht mehr in den Traditionen beheimatet sind und nach neuen Formen suchen. Dafür brauchen sie Ideengeberinnen, Möglichkeitengeberinnen und Mitgestalterinnen. Und das will ich sein.

Wie sähe denn das von Dir beschriebene Aushandeln seitens der professionellen Bestatterin Ulrike Hess heute aus?

Ich würde versuchen, zunächst den Impuls zu verstehen und ihn dann gemeinsam mit der Friedhofsverwaltung in einen verbindenden Prozess zu bringen. Also konkret: Die Sargträgerinnen oder Sargträger begleiten den Wagen, aber links und rechts laufen die Kinder mit. Solche Lösungen zu finden, macht mir ganz viel Freude.

Als ich Dir helfen durfte, hast Du mit den Verstorbenen gesprochen und so eine Beziehung zu ihnen aufgebaut. Ich habe das selbst ausprobiert und es hat auch bei mir funktioniert. Ich erinnere mich besonders an eine Stelle auf dem Weg zum Krematorium, an der man den Bodensee schön sehen konnte, und wo Du sagtest: „Schauen Sie mal, was für eine schöne Welt!“ Machst Du das immer so?

Ja, das mache ich immer so! (strahlt)

Pflegen und Hegen

Hast Du das gelernt oder kommt das „von innen heraus“?

Die Antwort darauf hat zwei Teile. In der Pflege lernt man unter anderem auch Patientinnen und Patienten kennen, die am appalischen Syndrom leiden, einer Bewusstseinsstörung, bei der die Patienten kaum mehr Äußerungen von Lebendigkeit zeigen. Trotzdem sind Pflegekräfte angehalten, mit ihnen zu sprechen. Denn wer von uns weiß denn mit Gewissheit, wie viel diese Menschen tatsächlich noch wahrnehmen? Neuere Studien zum „Locked in-Syndrom“ legen nahe, dass auch Menschen, die wie erstarrt sind, sehr wohl ein klares Bewusstsein haben. Auch Studien zu Nahtoderlebnissen zeigen, dass Menschen in dieser Situation sehr wohl noch ihre Umwelt wahrnehmen. Das ist der wissenschaftliche Aspekt. Der andere ist mein Empfinden, wenn ein Verstorbener vor mir liegt: Dieser Körper hat ein Leben lang diesen Menschen getragen und beherbergt. Das verlangt nach einem würdevollen und ethischen Umgang. Und außerdem ist dieser Körper noch warm, er verändert sich, er reagiert noch. Die verstorbenen Menschen, die wir waschen und ölen, lächeln hinterher.

Das durfte ich auch erleben.

Eben. (Lachen) Klar, da geht es natürlich auf der rein körperlichen Ebene um Entspannung durch die Massage, aber die macht etwas mit diesem Menschen, egal, was er noch wahrnimmt. Was wir als ganz besonders wertvoll erleben ist, wenn die Angehörigen mit dabei sind. Denn das mobilisiert auf vielerlei Ebenen einen inneren Prozess, den wir als sehr wichtig und wertvoll erleben.

Im Fachjargon nennt man das, was Ihr da macht, „hygienische Versorgung“. Wie nennt Ihr es?

Wir nennen es Pflegen und Hegen.

Und so wie ich es erlebt habe, wascht Ihr die Verstorbene vorsichtig, verwendet wohlriechende Öle – und Du segnest bzw. benennst und würdigst jedes einzelne Körperteil, das Du behandelst. Wissen die Angehörigen, die nicht gerade dabei sind, eigentlich, was Ihr macht?

Nein, Aber vielleicht müssen wir da noch mehr darüber sprechen – gute Idee!

Was ich auch erlebt habe, ist, wie Du all den Menschen, denen Du in so einem Ablauf begegnest, vermittelst, wie wertvoll „Deine“ Verstorbenen für Dich sind. Der Satz  „Pass gut auf ihn auf“ bei der Übergabe an den Mitarbeiter des Krematoriums hat mich am meisten berührt.

Das ist der Bogen der Fürsorge, von dem ich vorher sprach. Und weil der Mensch, den du gerade erwähnst, das sehr ernst nimmt, fahren wir auch an diesen Ort.

Aufbahren oder nicht?

Du bist, genau wie ich, eine große Befürworterin von Aufbahrungen. Gibt es dennoch es Situationen, in denen Du Angehörigen davon abrätst, und gibt es eine Alternative dazu?

Es stimmt, generell machen wir immer Mut und unterstützen die Aufbahrung sehr. Ich glaube auch, dass der Tod ein besonderes Gesicht hat. Wir erleben, dass Ruhe und Frieden davon ausgehen kann. Die oft geäußerte Angst, dass damit ein schreckenauslösendes Bild verbunden ist, habe ich in meiner 10-jährigen Arbeit nicht erlebt. Ein Mensch, der verstorben ist, darf gar nicht mehr so lebendig aussehen wie er vorher ausgesehen hat. Andererseits gibt es Erkrankungen, durch die sich der Abschiedsprozess des Körpers sehr beschleunigt. Dann verändert sich der Tote sehr schnell farblich, es tauchen Gerüche auf, und wie wir aus der Trauerpsychologie wissen, werden Gerüche sehr stark mit Erlebnissen verknüpft. In solchen Fällen bietet sich womöglich ein verkürzter Aufbahrungsprozess an. Wichtig ist auch, immer von den verstorbenen Menschen aus zu denken. Stell Dir eine Frau vor, die an ihrem Lebensende viel Cortison erhalten hat und deren Gesicht vollständig verändert ist. Zuvor legte sie immer viel Wert auf ihr Äußeres, ging nie ohne Lippenstift aus dem Haus. Würde diese Frau, die die letzten vier Wochen in ihrer Erkrankung nicht mehr besucht werden wollte, wollen, dass eine öffentliche Aufbahrung stattfindet? Nein, würde sie nicht.

Wie ist das bei Unfällen oder Verletzungen?

Da versuchen wir, zumindest Teile des Körpers freizulegen – natürlich immer in Absprache mit den Angehörigen. Es kann passieren, dass eine Frau, die ihren Mann durch ein Unglück oder durch einen Unfall verloren hat, dessen Anblick braucht, um zu begreifen, dass er gestorben ist. Ich erinnere mich auch einen jungen Mann, der auf den ersten Blick unverletzt war und dessen Mutter mich fragte: Warum ist er denn überhaupt gestorben? Und dann habe ich sie mit den Händen an den Arm und an Bein und den Bauch geführt und gezeigt, wo die Verletzungen sind. Sie hat nur gefühlt, nicht gesehen, aber das war genug, um zu begreifen.

Die Frage nach dem letzten Bild begleitet mich auch in meiner Arbeit immer wieder, zu Fotografien habe ich auch ein Interview mit einem jungen Forscher geführt. Was ist für die Angehörigen hierbei wichtig?

Wenn Angehörige bei der Versorgung und beim Hegen und Pflegen dabei sind, frage ich oft, ob sie ein Bild machen möchten. Ich sage aber auch: „Achten Sie bitte darauf, wohin Sie das Bild schicken, und wägen Sie gut ab, wer das Bild haben möchte.“ Ich hatte den Fall eines verstorbenen Vaters, dessen zwölfjähriger Sohn ihn keinesfalls sehen wollte. Daraufhin bat seine Patentante mich, den Vater zu fotografieren und ihr das Bild zu schicken. Und an seinem 18. Geburtstag wird sie den Sohn nochmals fragen, ob er das Bild haben möchte oder nicht. Das fand ich toll.

Der Himmel woanders auf der Welt

Hast Du eigentlich eine Vorstellung vom Jenseits? Und wird diese von Deiner Arbeit geprägt?

Ja, habe ich. Das ist ein Ort oder eine Welt, die jenseits von dem ist, was wir denken können. Ich vermute, es gibt ein „Weiter“, und bin wahnsinnig gespannt drauf. Wenn ich sterbe, wird der Moment sein, in dem ich denke: „Jetzt erfahre ich es. Wow.“ Für mich hat alles, was dann da ist, etwas Helles und Lichtvolles. Darum heißt mein Unternehmen ja auch „Lichtweg“. Ich bin aber auch extrem interessiert daran, wie der Himmel bzw. das Jenseits in anderen Kulturen, woanders auf der Welt aussieht. Darf ich eine Geschichte erzählen, die dazu passt?

Gerne.

Ich saß einmal mit dem Sohn einer Verstorbenen bei der Aufbahrung. Ich weiß gar nicht, wieso ich Zeit hatte, aber wir saßen da eine Zeitlang still nebeneinander und blickten auf den offenen Sarg. Plötzlich fragte er mich: „Worüber denken Sie eigentlich gerade nach?“ Ich sagte: „Wo ist denn das jetzt, dieses Leben, das da gerade noch in diesem Körper war?“ Er sagte zu mir: „Sehen Sie, ich denke darüber nach: Wo war denn das vorher, dieses Leben?“ Das war solch ein schöner Moment.

Raus aus der Ohnmacht

Werden in der Zeit zwischen Tod und Bestattung schon die Weichen für die Trauerzeit gestellt? Und wenn ja, welche?

Ein wichtiger Impuls, der in dieser Zeit „implementiert“ werden kann, ist: Ich kann aus der Opferrolle wieder auftauchen. Das Unglück ist passiert – da hatte ich keinen Einfluss. Jetzt in diesem nun beginnenden Prozess kann ich wieder zum Handelnden werden. Ab diesem Moment kann ich mitbestimmen, mitgestalten. Jedem Trauma liegt diese Erfahrung zugrunde. Die Angehörigen stehen dem, was passiert ist, machtlos gegenüber. Diese Ohnmacht kann ich den Angehörigen nicht nehmen. Aber ich kann sie wieder zu Handelnden werden lassen, indem sie diese Tage und die Trauerfeier gestalten können. In der Salutogenese würde man sagen, dass dadurch die Betroffenen ihre persönliche Situation als sinnhaft, als handhabbar und als verstehbar erleben sollen. Ich sehe es auch als meine Aufgabe an, hierfür Impulse zu geben

Was sind das für Impulse?

Man kann zum Beispiel das Grabkreuz oder ein Sterbebrett selber gestalten. Wir hatten mal einen jungen Mann, der für seinen Vater einen wunderbar mit Ornamenten verzierten Stab geschnitzt hat. Oder die Urne, die man auf meiner Webseite sehen kann. Die hat der Enkelsohn einer Dame aus Pappmaché gestaltet und darauf geschrieben: „Beste kleine Oma“. Vor ein paar Monaten starb der Opa, ich fragte die beiden Töchter nach seinen Wünschen, und sie antworten: „Er will genau die gleiche Urne.“ Daraufhin hat der Enkel eine ähnliche Urne gestaltet und darauf geschrieben: „Bester großer Opa“.

Aufbruch in der Trauerkultur

Viele Deiner Geschichten sind für mich fast filmreif. Apropos: Was sagt der Profi zu der Netflix-Serie „Das letzte Wort“, in der Anke Engelke eine Frau spielt, die ihrem Mann verliert und selbst zur Trauerrednerin wird?

Ich mag Anke Engelke, sie ist mir sehr sympathisch, weil sie einen guten Humor hat. Und in den Folgen, die ich gesehen habe, gab es einige Sachen, die ich richtig cool fand. Manches war ein bisschen überzogen. Das hängt aber sicher an dem Format „Serie“. Insgesamt finde ich es wichtig, dass im Fernsehen zumindest ansatzweise Möglichkeiten gezeigt werden, wie auch unkonventionell mit Trauer und Abschiednehmen umgegangen werden kann. Eine zeitgemäße Trauerkultur braucht Diversität und eine wachsende Toleranz dafür. Ich finde diese Entwicklung wichtig.

Szene aus der Netflix-Serie „Das letzte Wort“

Dass die Serie so viel Beachtung fand, hängt sicher auch damit zusammen, dass es immer noch sehr ungewöhnlich ist, das Thema Tod so in den Mittelpunkt zu rücken. Wie hat sich der gesellschaftliche Umgang in Deiner Zeit als Bestatterin verändert?

Es gibt nach wie vor diesen Raum, in dem der Tod nicht angesprochen wird – obwohl gleichzeitig in fast jedem Krimi jemand stirbt. Andererseits hat insbesondere die Hospizbewegung viel dafür getan, dass der Tod in einer Guten Weise zum Thema gemacht wird. Wie viele Menschen in ambulanten Hospizgruppen ehrenamtlich tätig sind – das ist der Hammer!  Es gibt aber auch viel mehr Bücher, die oft aus persönlichen Erfahrungen entstanden. Das sind Aufbrüche, die da stattfinden.

Stille, Schnaps und eine Götterspeise

Eine Frage, die ich nicht unter den Tisch fallen lassen möchte, ist die nach Bestattungen in der Zeit der Pandemie. Welchen Einfluss hat Corona?

Wir haben vor allem gemerkt, dass die Trauerfeiern, die nur im ganz kleinen Kreis stattfinden können, manchmal schwierig für die Angehörigen waren. Wir haben aber auch wunderbare Begleitungen erlebt. Wir hatten eine Trauerfeier auf dem Friedhof, da waren nur die Kinder, die Lebensgefährten und die Enkelkinder da. Alles war draußen, der Pfarrer hielt eine verkürzte Liturgie, ich begleitete ihn zurück in die Aussegnungshalle, kam wieder zurück – und sah, wie die ganze Familie am Grab in Stille innehielt. Das hätten die sich nie getraut, wenn eine Öffentlichkeit dagewesen wäre, nie! Ich musste in diesem Moment an einen Satz von Verena Kast denken: „Segnen ist: So ist es“. Und jetzt hatten alle Zeit, genau das wahrzunehmen. Ich konnte da gar nicht mehr sauer auf Corona sein. Eine andere, lustige Idee betrifft das „Trösterle“, also das Trauermahl, das jetzt gerade nicht stattfinden kann. Bei einer Beerdigung gab es nach der Trauerfeier eine Tüte – ich habe sie aufgehoben (holt und zeigt die Tüte). In der Tüte war ein kleiner Schnaps, weil der Verstorbene gerne Schnaps getrunken hatte, ein Wurstsalat, noch etwas zu trinken und Götterspeise – er war Götterspeiseliebhaber. Und auf der Tüte stand sein Lieblingsspruch: „Sattelt die Hühner, wir reiten nach Texas.“ Und ich ging  nach Hause, saß in der Küche und sagte: „So Herr xxx, diese Götterspeise auf Sie.“ Super, oder? Es war die erste Götterspeise meines Lebens.

Du erlebst tolle Sachen!

Ja, meinen Beruf will man haben, oder?

 

 

Foto Ulrike Hess: Privat
Foto Urnen: Lichtweg
Foto Szene am Grab: Netflix, „Das letzte Wort“
Foto Banner Abreise: Photo by Mantas Hesthaven on Unsplash