„Die digitale Trauer ersetzt die analoge nicht“

Lorenz Widmaier studierte an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, als ich dort die Bibliothek leitete. Inzwischen promoviert er an der Cyprus University of Technology im Fachbereich Visuelle Soziologie zum Thema Trauer und Erinnerung in der digitalen Gesellschaft, konkret: zum Umgang mit dem digitalen Nachlass. Ich habe mich mit ihm über seine Forschung unterhalten.

Was bedeutet der „digitale Nachlass“?

Lorenz, das Stichwort „digitaler Nachlass“ kennt man vor allem aus juristischen Diskussionen, wenn es zum Beispiel um das „Recht auf Vergessen“ und das Löschen von z. B. Facebook-Konten geht. Welche Fragen interessieren Dich als Soziologe?

Meine Arbeit ist empirisch, ich habe dazu bislang etwa 20 Gespräche geführt. Zum einen interessiere ich mich, wie Hinterbliebene den „digitalen Nachlass“ – also die Daten, die ein Verstorbener auf seinem Smartphone, Facebook-Account, auf dem Rechner oder Festplatten hatte – für Trauer und Erinnerung nutzen. Der zweite, damit verbundene Teil meiner Arbeit fragt dann, wie wir eigentlich heutzutage digital trauern und erinnern – wobei ich gleich schon betonen muss, dass die Trennung von digital und analog nicht aufrechtzuerhalten ist. Zumindest nicht in dem Sinne, dass digitale Praktiken analoge ersetzen.

Wie hast Du Deine Gesprächspartner gefunden?

Zunächst im Bekanntenkreis. Dann war ich im Museum für Sepulkralkultur und habe dort zahlreiche Besucher angesprochen. Ich habe Hospize und Bestatter angeschrieben. Sehr hilfreich waren TrauerbegleiterInnen. Und dann habe ich auch über Social Media gesucht, habe zum Beispiel auf YouTube Erinnerungsvideos angeschaut und die Leute angeschrieben, die sie erstellt haben. Durch dieses Vorgehen habe ich auch Personen gefunden, die das Digitale entweder nicht öffentlich nutzen oder nur sehr eingeschränkt nutzen – und das wollte ich auch abbilden, anders als viele Studien in der Digitalforschung.

Lorenz Widmaier im Museum für Sepulkralkultur, Kassel

Wie bereitest Du Dich auf die Gespräche vor?

Sofern es frei verfügbares Material über den Verstorbenen gibt, schaue ich mir das an, weil ich alles andere als respektlos empfände. Aber sonst mache ich relativ wenig. Für die Gespräche selbst bereite ich Karten mit Fragen zu verschiedenen Themengebieten vor – aber die benutze ich nur, wenn das Gespräch ins Stocken kommt. Die meiste Zeit liegen die Karten eigentlich nur da.

Wie dokumentierst Du Deine Besuche?

Ich besitze ein Audioaufnahmegerät, außerdem mache ich Fotografien: von den Bildern, die in der Wohnung hängen, oder wenn wir gemeinsam auf dem Smartphone Bilder anschauen. Pro Gespräch kommen etwa 50 Bilder zustande.

Die Erinnerung beginnt häufig erst nach Jahren

Ich könnte mir vorstellen, dass Du manchmal noch sehr viel Seelentrost spenden musst, oder? Wie lange sind die Trauerfälle zum Zeitpunkt Deines Besuchs vorbei?

Bei den meisten ist es mindestens zwei Jahre her. Ohnehin habe ich das Gefühl, dass das Thema Erinnerung frühestens nach einem Jahr relevant wird, oft auch noch viel später. Zum Abstand kommt noch meine Rolle hinzu: Ich bin kein Trauerbegleiter, der Konzepte, Tipps und Ideen hat. Ich versuche so weit wie möglich mich zurückzunehmen. Und so entstehen dann Gespräche von drei Stunden Dauer, in denen ich vielleicht nur meine fünf Kernfragen gestellt habe. Ich versuche auch nicht, Mitleid auszudrücken: Viele Gesprächspartner haben mir gesagt, dass sie sofort aufhören würden zu erzählen, weil sie nicht wollen, dass jemand anderes auch leidet. Und Viele haben gesagt, dass diese Ungestörtheit ihnen eine Reflexionsmöglichkeit eröffnete, die selbst im persönlichen Umfeld oft nicht möglich ist.

Ich glaube, dass Du den Trauernden damit ein ganz großes Geschenk machst. Auch wenn Dein Projekt sich nicht als Trauerhilfe versteht, ist es das vermutlich doch. Schließlich sitzt Du ja nicht nur da und hörst zu, sondern machst ja dann auch noch was mit den Erinnerungen.

Ich hoffe, dass ich meinen GesprächspartnerInnen etwas zurückgeben kann. Manchmal habe ich allerdings auch das Gefühl, vielleicht etwas zu viel aufgewirbelt zu haben. Dann frage ich nochmal nach, um mich zu versichern, dass es dennoch in Ordnung war.

Hast Du noch Kontakt zu den Trauernden?

Mit Vielen ja. Es gibt aber auch Einige, die es gerade als wohltuend empfanden, mit einem völlig Fremden zu sprechen, den sie nie wiedersehen würden.

„Manche sagen: Das ist Privatsphäre, das schaue ich mir nicht an“

Du hast gesagt, dass Du in manchen Interviews nur fünf Kernfragen stellst. Was sind das für Fragen?

Zum einen geht es mir um den digitalen Nachlass: Was ist überhaupt da, was wurde geerbt? Und dann ist da die große Frage: Wurde dieses Erbe angeschaut? Dabei gibt es sehr unterschiedliche Positionen: Manche schauen ihn sich überhaupt nicht an, weil sie sagen: Das ist Privatsphäre, und die endet nicht mit dem Tod. Für manche, die ein schwieriges Verhältnis zum Verstorbenen hatten, ist der digitale Nachlass eine Herausforderung. Und dann gibt es die, die dankbar sind – auch weil sie sich über die Dokumente vergewissern können, dass der verstorbene Mensch ein gutes Leben hatte. Die weiteren Fragen betreffen dann die Trauer- und Erinnerungspraktiken, die sich zumindest teilweise aus diesem digitalen Nachlass speisen.

Was für Formen der Erinnerung sind Dir dabei begegnet?

Da gibt es zum Beispiel den Vater, der seine Tochter verloren hat und Gedenkvideos für sie auf YouTube veröffentlicht, die auch Bilder und Sprachnachrichten von ihrem Smartphone enthalten. Ganz viel passiert nicht öffentlich: in WhatsApp-Gruppen von Familien oder geschlossenen Facebook-Gruppen.

Warum Trauergruppen auf WhatsApp funktionieren

Das ist interessant, denn aus der „analogen“ Welt wissen wir, dass im Umfeld oft schon nach etwa sieben Wochen die Erinnerung an den Toten problematisch wird, verdrängt wird, weil es „dann auch mal gut sein muss“. Was könnte der Unterschied zu diesen digitalen Räumen sein?

Zunächst muss man zwischen öffentlichen und privaten Gruppen unterscheiden. Die öffentlichen Trauergruppen sind themenspezifisch, etwa für verwaiste Eltern. Diese Menschen verstehen die Trauer des jeweils anderen und können sich über Jahre austauschen, auch weil sie wissen, dass die Trauer nie aufhört, sondern sich verändert. Außerdem kann man in diese Gruppen mühelos raus- und wieder reingehen. Auf der anderen Seite gibt es die privaten Gruppen, also z. B. die WhatsApp-Gruppe in der Familie. Das funktioniert vermutlich nicht zuletzt dank der zeitlichen Flexibilität und räumlichen Distanz. Ich kann mitten in der Nacht etwas schreiben, die anderen können zwei Tage später antworten, und während man manchmal sprachlos ist, wenn am jemanden gegenübersitzt, ist es bei WhatsApp auch okay, wenn man einfach nur ein Herz gibt. Oder mit einem Smiley antwortet. Das macht vieles einfacher. Abgesehen davon leben Familie heutzutage ja nicht mehr alle an einem Ort.

Keine Angst vor Virtual Reality

Wie hält man denn digital den Kontakt zu Verstorbenen? Es gibt da diese für mich etwas unheimliche Berichterstattung über eine Frau in Südkorea, die ihre verstorbene Tochter in einer Virtual-Reality-Welt traf. Sieht so die Trauer der Zukunft aus?

Das glaube ich nicht. Ein bekanntes, viel diskutiertes Beispiel ist das Netzwerk Eter9. Die Idee war, dass ein Algorithmus aus dem, was ich dort poste, lernt und dann nach meinem Tod „in meinem Sinne“ weiter postet. Ich hab es selber ausprobiert und muss sagen: Das funktioniert überhaupt nicht, der Algorithmus postet nur Blödsinn (lacht). Sicher gibt es solche Utopien, die eine bestimmte Form von Gläubigkeit ins Digitale projizieren wollen, aber ich glaube nicht, dass sie für die Mehrzahl der Trauernden wirklich wichtig sind. Ich habe meine GesprächspartnerInnen explizit auch auf diese Virtual Reality-Phänomene angesprochen, und die fanden sie unnötig, wenn nicht gruselig.

Virtual-Reality in Südkorea

„Von seltsamen Phänomen haben fast Alle berichtet“

Das kann ich verstehen, zumal es viele Menschen gibt, die Befürchtungen haben, dass die Digitalisierung der Trauer in solche merkwürdigen Welten führt. Apropos merkwürdig: Vielen Trauernde bemerken seltsame, übernatürlich wirkende Phänomene – die im Zusammenhang mit den neuen digitalen Möglichkeiten noch unheimlicher erscheinen könnten.

Von diesen seltsamen Phänomen haben fast alle meiner GesprächspartnerInnen berichtet, wobei die interessanterweise immer gleich mit reflektiert haben, dass es vielleicht oder wahrscheinlich ja gar nicht wahr ist, aber dass Frage wiederum auch gar nicht so wichtig ist. Als jemand, der stark vom Konstruktivismus geprägt wurde, freut es mich natürlich, wenn diese Denkschule im Alltag Einzug hält (lacht). Von einem nur scheinbar seltsamen Phänomen hat mir eine Frau erzählt, die ihren Mann verloren hatte: Sie schaute immer mal wieder auf den gemeinsamen WhatsApp-Verlauf, und eines Tages stand dort „Online“ und es war ein anderes Bild zu sehen. Die Erklärung war banal: Jemand hatte die Nummer des Mannes übernommen.

„Es wird immer dort getrauert, wo auch gelebt wurde“

Lass uns noch ein bisschen grundsätzlicher über das Verhältnis von digitaler und analoger Trauer sprechen.

Grundsätzlich kann man sagen: Es wird immer dort getrauert, wo auch gelebt wurde. Das ist auch der Grund dafür, weshalb all die Plattformen, auf denen man Profile für Verstorbene anlegen kann, kaum genutzt werden. Stattdessen wird in den sozialen Medien getrauert – aber eben nicht nur. Das Digitale ersetzt das Analoge nicht. Klar, früher schrieb man Briefe an Verstorbene, heute hält man über WhatsApp oder den Facebook Messenger Kontakt. Früher trug man ein Schmuckstück mit einem Foto darin, heute zeigt der Startbildschirm des Handys dieses Foto. Es werden jetzt virtuelle Kerzen auf dem Profil des verstorbenen Menschen angezündet. Aber im Grundsatz bleibt es das gleiche. Und umgekehrt wird das Digitale wieder in die analoge Welt zurückgetragen, etwa indem mithilfe eines Algorithmus ein Erinnerungsbuch erstellt wird. Aber all das ist relativ einfach, hat wenig mit den Utopien zu tun, sondern mit dem Wunsch nach den „Continuing Bonds“, ein Begriff, der 1996 in die Trauerforschung eingeführt wurde.

„Die Theorien des radikalen Wandels sind nicht haltbar“

In der digitalen Welt ist die Trauer also gar nicht so an den Rand gedrängt?

Nein, und genau gegen solche Theorien eines radikalen Wandels schreibe ich unter anderem an. Wenn zum Beispiel der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ – einem Buch, das ich ansonsten sehr schätze – schreibt, das Internet sei ein „Wohlfühlmedium“, in dem es nicht um Krankheit geht, in dem es nicht um Lebenskrisen geht, in dem es nicht um Tod geht – dann ist das empirisch einfach nicht haltbar. Und wenn Roberto Simanowski schreibt, dass das Digitale und soziale Medien dem Erzählen abträglich seien, dann kann ich nur sagen, dass das auf meine GesprächspartnerInnen nicht zutrifft. Das Digitale wird sehr oft genutzt um über die Verstorbenen zu erzählen und in den sozialen Medien finden sich auch Zuhörer. Auch dass das Digitale Tagebücher, Briefe oder das gemeinsame Betrachten von Fotoalben verdrängt, kann ich nicht bestätigen – das gibt es alles nach wie vor. Übrigens hat sich auch keiner meiner GesprächspartnerInnen über eine Flut an Bildern beschwert – Viele hätten sich noch mehr gewünscht. Wie schon gesagt, bietet das Digitale einige zusätzliche Möglichkeiten, ändert aber nicht alles.

Warum es wichtig ist, Alltagsfotos zu machen

Hat sich durch diese Gespräche, die Du in den vergangenen Monaten geführt hast, Deine eigene Sicht auf Deine Endlichkeit verändert?

Bestimmt, aber ist es schwer zu fassen. Vielleicht ist Demut das richtige Wort. Vielleicht bin ich auch noch gelassener geworden, weil ich einmal mehr erfahren habe, wie unwichtig vieles plötzlich werden kann. Es gibt auch ganz praktische Effekte: Ich habe mir eine kleine Kamera gekauft, die ich immer dabei habe und mit der ich viel mehr Alltagsbilder mache. Denn in den Gesprächen habe ich festgestellt: Die perfekten Aufnahmen im Fotostudio oder auf den teuren Urlaubsreisen vor den grandiosen Landschaften – die interessieren niemanden. Wichtig ist das Bild, auf dem die verstorbene Partnerin im Garten steht und auf diese ganz bestimmte Art über die Schulter zurückschaut.

Klarheit schaffen – und keine Scham vor einem letzten Bild

Hast Du noch mehr solcher Alltagstipps aus den Gesprächen mitgenommen?

Etwas, was für Hinterbliebene auch sehr wichtig ist, Klarheit: Was darf ich machen? Was soll ich machen? Dazu könnte man Passwörter oder Wünsche hinterlassen, die mitteilen, was man anschauen darf und ob was gelöscht werden soll. Was mir außerdem noch einfällt: Ich frage in den Interviews auch immer, ob die Hinterbliebenen nach dem Tod noch Bilder gemacht haben. Diejenigen, die es nicht getan haben, bereuen es oft. Und viele, die Bilder haben, haben sie heimlich aufgenommen. Manchmal durfte ich sie sehen.

Wie war das dann für Dich?

Das waren immer schöne, sehr intime Momente. In den Medien sieht man häufig nur Bilder von Menschen, die gewaltsam verstorben sind, durch Verbrechen, im Krieg und bei Unfällen. Aber den friedlichen Tod, wenn jemand einschläft oder „normal“ stirbt, das sieht man so gut wie nie. Genau das habe ich dort oft gesehen. Und dieser Friede ist für die Hinterbliebenen sehr tröstlich.

Lieber Lorenz, vielen Dank.

 

Kennen Sie Hinterbliebene, die digitale Daten geerbt haben, oder verfügen selbst über einen digitalen Nachlass? Lorenz Widmaier freut sich über Menschen, die ihre Erinnerung mit ihm teilen. Eine Einladung zum Gespräch und weitere Informationen finden sich auf der Projektseite.

Kontakt:
Lorenz Widmaier
0174 7517752 (Telefon/SMS/WhatsApp)
Lj.widmaier@edu.cut.ac.cy

This project has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Skłodowska-Curie grant agreement No. 764859.

 

Foto Banner: Rodion Kutsaev on Unsplash
Foto Lorenz Widmaier: privat
Foto Screenshot Virtual Reality: www.spiegel.de/Wissenschaft/